Ein mitreißendes Opus summum

Würzburger Oratorienchor und Orchester unter Leitung von KMD Jörg Wöltche spielten Johann Sebastian Bachs Hohe Messe in h-moll in einer bewegenden Aufführung in Bad Kissingen.

Es lag eine große, erwartungsvolle Spannung über dem Max-Littmann-Saal, im Parkett genauso wie auf der Bühne. Denn ein Werk stand auf dem Programm, das, durchaus aus guten Gründen, seit Ewigkeiten nicht in Bad Kissingen zu hören war: Johann Sebastian Bachs Hohe Messe in h-moll BWV 232, sein Opus summum aus seinen letzten Lebensjahren, eine vermächtnishafte Zusammenfassung seines musikalischen und auch theologischen Denkens: ein Werk, das in seiner Komplexität durchaus einschüchtern kann, allerdings auch, wenn alles zusammenpasst, absolut mitreißen kann.

Und Letzteres war das, was im Max-Littmann-Saal passierte. Kirchenmusikdirektor Jörg Wöltche, der die Aufführung leitete, hatte den Würzburger Oratorienchor und Orchester sowie ein junges Solistenquartett mit Mechthild Söffler und Lieselotte Fink (Sopran I & II), Nina Schumertl (Alt), Lars Tappert (Tenor) und Johannes Weinhuber (Bass). „Wir führen die h-moll-Messe auf, weil jeder Mensch sie in seinem Leben einmal live gehört haben muss“, meinte Jörg Wöltche, der vor den beiden Teilen der Messe einige Hinweise auf die Absichten und Umsetzungen Bachs gab, um dessen Methoden, die Emotionalität der Texte und der Musik in Einklang zu bringen. Oder über die Konstruktion von musikalischer Bildhaftigkeit wie mit dem Namen B-A-C-H: Wenn man die geschriebenen Noten B und H sowie A und C durch zwei Linien verbindet, entsteht ein liegendes Kreuz. Oder die Tonart fis-moll als Metapher für Golgatha, denn es ist die Tonart mit drei Kreuzen. Man war also schon sensibilisiert, als die Musik begann.

Man konnte beobachten, dass die Spannung des Vorfeldes noch ein bisschen anhielt, als das Kyrie eleison begann. Nicht, dass da Nervosität war, sondern eine respektvolle Sorg- und Behutsamkeit. Das ist kein Wunder, denn wer sich singend oder spielend auf diese fast zweistündige Messe mit ihren enormen Anforderungen angeht, weiß, worauf er sich einlässt: Es gibt keine Seitenausgänge und Fluchtwege. Man muss durch, ohne seine Konzentration und seinen Ausdruckswillen zu verlieren. Und es war schön zu beobachten, wie schnell sich bei allen Beteiligten die Behutsamkeit in engagiertes Interpretieren wandelte.

Jörg Wöltche hatte es dabei allerdings auch verhältnismäßig einfach, denn der Würzburger Oratorienchor vereint rund 100 Sängerinnen und Sänger, die nicht nur so große Werke stemmen, sondern sie auch wirklich durchhalten können. Es war erstaunlich, dass ein so großer Laienchor so präzise sang, dass das für Ensembles dieser Größe nicht untypische Zerfließen der textlichen Konturen bis zum Ende nicht einstellte, dass die lateinischen Texte auch in schwierigen Strukturen immer verständlich blieben. Darüber hinaus scheint der Chor gewöhnt zu sein, Blickkontakt mit dem Dirigenten zu halten, was nicht nur der Präzision guttat, sondern auch der dynamischen und agogischen Gestaltung, die durch ein spontanes Reagieren möglich wurde. Selbst in den bis zur Achtstimmigkeit aufgefächerten Strukturen und mehrstimmigen Fugen wusste jeder, was er zu singen hatte – und tat das auch. Eine tolle Leistung.

Es wäre unfair, aus dem Solistenquintett eine Sängerin, einen Sänger herauszuheben, denn sie waren alle hervorragend „gecastet“. Technisch und intonatorisch souverän in ihren nicht ganz einfachen Partien, nutzten sie ihre Freiräume zu einer schnörkellosen, fast ein bisschen nüchternen, aber dadurch glaubwürdigen Emotionalität der einzelnen Seelen, sangen mit einem gut kontrollierten Messa di voce und einem lockeren Umgang mit den reichlichen Verzierungen und Melismen.

Das Orchester passte bestens dazu mit seiner modernen Spielweise. Es musizierte nicht, wie man gerne sagt und oft erwartet, „historisch informiert“, sondern mit modernem Instrumentarium und moderner Spielweise, wenn auch mit wenig Vibrato oder unnötigem Legato. So konnte die Musik in einen ausgezeichneten Fluss geraten, blieb aber auch im Tutti immer bestens durchhörbar und strukturell klar. Das war aber auch möglich, weil die Continuogruppe auffallend durchsetzungsfähig und oft stark rhythmisierend spielte und mitunter geradezu perkussive Qualitäten entwickelte (neben den Pauken).

Beste Voraussetzungen also. Und Jörg Wöltche hatte daraus eine absolut schlüssige Dramaturgie entwickelt, die das Werk außerordentlich plastisch und auch verständlich werden ließ. Und sie machte deutlich, dass der alte Bach nicht nur konstruktiv raffiniert, sondern auch deutlich emotional komponieren konnte. Denn die h-moll-Messe ist keineswegs nur distanziert-deklamatorische Verkündigungsmusik, denn man kann durchaus Gemüts- und Situationsdifferenzierungen gestalten. Bei den Solisten als Repräsentanten des gläubigen Individuums ohnehin, aber auch in den Chören der Christenschar. Denn da gibt es, nicht zuletzt dank der Besetzung mit reichlich Bläsern (unter anderem drei Trompeten und ein Corno da caccia) festliche Prächtigkeit und Glaubensgewissheit, aber auch verhaltenere Passagen. Denn schließlich ist in einem Glaubensbekenntnis auch der der Zweifel oder zumindest die Nachdenklichkeit ein integraler Bestandteil, die in harmonischen Reibungen gut herauskamen. Aber es war nicht alles Erhabenheit und purer Ernst oder Seufzen. Dadurch, dass Bach den Dreiertakt als Symbol der Dreifaltigkeit einsetzte, durfte es schon auch mal tänzerisch und geradezu vergnüglich werden.

Nicht der kompositorische, aber der emotionale Höhepunkt der Messe war im „Credo“ der Übergang zwischen „Crucifixus etiam pro nobis“ und „Et resurrexit tertia die“ – eigentlich die Schlüsselstelle des christlichen Glaubens. Da stirbt Christus am Kreuz, und auch die Musik erstirbt in eine Generalpause, in eine absolute Stille, in der die ratlose Seele nicht weiß, wie es mit ihr weitergehen soll. Und dann („tertia die“) bricht mit einem Paukenschlag die Freude über die Auferstehung aus – gleichsam eine Explosion von Chor und Orchester.
Es war eine Aufführung, die ihr Publikum erreichte. Am Ende hielt es im Saal fast niemanden mehr auf seinem Stuhl. Der langanhaltende Beifall galt natürlich zuallererst den Ausführenden und dem grandiosen Werk. Aber er wirkte auch – leider aus aktuellem Anlass – wie die untermauernde Bestätigung der letzten Bitte der Messe: „Dona nobis pacem.“

Bericht: Thomas Ahnert - Foto: Gerhild Ahnert.