Ein Christ und ein Atheist diskutierten im Stattbahnhof über die Existenz oder Nichtexistenz von Gott
Aus der Presse zitiert:
Schweinfurt, 4. März 2013. Unter dem Aspekt des Jahresthemas „Reformation und Toleranz“ hatte Pfarrer Martin Schewe zu einem Streitgespräch zwischen einem Theologen und einem Atheisten über „Das Sein oder Nichtsein Gottes“ in den Stattbahnhof eingeladen. Etwa 100 Zuhörer waren gekommen. [...]
Der 1941 in Köln geborene Joachim Kahl promovierte 1967 zum Dr. theol., trat kurz danach aus der evangelischen Kirche aus. Nach dem Zweitstudium der Philosophie, Soziologie und Politik wandte er sich vorübergehend dem Marxismus zu. Er gilt als Vertreter des klassischen Atheismus. Axel Noack (geboren 1949 bei Görlitz) studierte Theologie, war Studentenpfarrer, engagierte sich in der Bürgerbewegung der DDR, war von 1997 bis 2009 Bischof der evangelischen Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen.
„Ich bin ein waschechter, offener, auch streitbarer Atheist, der sich als säkularer Humanist versteht“, stellt Kahl sich vor. Sein Atheismus hat zwei Säulen: Eine argumentiert empirisch mit Hilfe der sogenannten Theodizee-Begründung, also mit der Unerlöstheit und der Unerlösbarkeit der Welt aus unsäglichen Leiden in der Tier- und Menschenwelt. Wie kann ein angeblich liebender Gott die Lebewesen so leiden lassen? Es gibt keinen göttlichen Erlöser oder gnädigen Gott. [...]
„Ich halte dagegen“, sagt der Theologe Noack. „Ich bin ein frommer Mensch und gerne Christ, und ich kann über Gott nur persönlich sprechen. Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat. Bei der Frage nach meinem Platz in dieser Welt ist der Glaube eine entscheidende Hilfe.“ [...] Gewiss stimme es, dass sich Menschen Illusionen machen. Aber nicht alle Bilder von Gott seien Illusionen. „Die Menschen, die sich vor Gott beugen, stehen hoffentlich vor den Menschen etwas gerader da, sind im Leben weniger auf sich bezogen.“ Die friedliche Revolution in der DDR wäre ohne die Christen nicht möglich gewesen. [...]
Kahl kann kaum positive Wirkungen des Gottesglaubens erkennen: „Es gibt keine menschliche Verirrung, kein Verbrechen, das nicht in den heiligsten Hallen des Vatikans oder evangelischer Pfarrhäuser aufzufinden wäre.“ Gottesglaube sei nicht die geringste Garantie, dass Menschen nicht zu Verbrechen fähig wären. Gottesglaube sei religiös indifferent, der Gottesbegriff eine Leerformel: „In Gott kann man alles hineinprojizieren.“ Noack widerspricht: Natürlich sind Christen auch Menschen und deshalb fehlbar. Aber: „Alle Regime, die Religion abschaffen wollten, waren alles andere als friedlich. Der christliche Glaube hat sich bewährt. Man kann gar nicht erfassen, wie vielen Menschen er geholfen hat, getröstet zu leben und zu sterben.“ [...]
Hat es also der Christ leichter? „Ja, es ist ein gewisser Luxus da“, räumt der Theologe ein. Jeder Ritus, etwa im Gottesdienst, habe die Funktion zu entlasten. Beten sei eine große Kraft. „Ich kenne fast keinen Menschen, der nicht will, dass ich für ihn bete.“ Der Atheist widerspricht: „Das Beten ist eine illusionäre Form der Zuwendung, ich halte Gebete für Selbsttäuschung, für eine Form der Autosuggestion.“ [...]
Und die Hoffnung auf ein Jenseits? Kahl bezieht aus der Neurowissenschaft die Erkenntnis, sich als sterbliches, endliches Wesen zu begreifen und nicht auf eine postmortale Existenz zu hoffen. Pfarrer Noack dagegen vertraut der radikalen Liebe Gottes, auch über den Tod hinaus. Die Zusage Gottes: „Du bist ein geliebtes Wesen“ hat für ihn schon hier im Leben Konsequenzen. [...]
Zum Schluss dankt Dekan Oliver Bruckmann dem Publikum im vollbesetzten Saal auch für sein interessiertes Nachfragen. Die Akteure auf der Bühne werden mit einem Bocksbeutel belohnt. „Diese Obereisenheimer Höll wird Ihnen himmlisch schmecken“, glaubt der Dekan.
(aus: Schweinfurter Tagblatt vom 7. März 2013, S. 27, Text: Manfred Herker)