Volkskirche und Freikirchen: Neue Religiosität

Interview mit dem Dekan

Frage: Herr Bruckmann, nehmen Sie neue Religiosität in der evangelischen Kirche wahr?

Dekan: Meine Beobachtung ist, dass sich unsere Volkskirche an den Rändern auseinanderdifferenziert und zwar in zwei Richtungen: Die eine Richtung ist eine eher evangelikale, biblizistische, fundamentale bis fundamentalistische. Die Menschen suchen eine höhere Glaubensverbindlichkeit und ein klar erkennbares Profil. So entstehen Freikirchen oder besondere Kreise in Gemeinden, die sich als ein Zusammenschluss von Gleichen verstehen. [...]

Dann gibt es den anderen Rand. Ich nenne ihn mal individuell, individualistisch, aus ganz verschiedenen spirituellen und philosophischen Bausteinen auswählend. Da geht es nicht drum, dass man sich unter Gleichen trifft, sondern ums Individuelle. Für das eigene religiöse Bewusstsein, Denken und Leben wird aus Natur, Kultur, Wellness, Esoterik, Wiedergeburt - und man könnte noch mehr nennen - ausgewählt. Diese Menschen wenden sich sehr stark gegen Dogmatismus. "Man" gibt es nicht. [...]

Frage: Wie sind die von Ihnen angesprochenen "Freikirchen" mit der evangelischen Kirche verbunden?

Dekan: Da gibt es die ganze Bandbreite: Es gibt Freikirchen, die vollkommen ungebunden sind von unserer Landeskirche und auch ungebunden von unseren Kirchengemeinden. Dann gibt es aber auch Gruppen, die in einer Gemeinde leben, aber ein Stück eigenes Profil leben und pflegen. Diese Gruppen sind in der Regel offen für alle, die genau dieses Profil suchen. Es kommen also auch Menschen aus einer anderen Gemeinde von ganz außerhalb und bilden da so eine "freie Gemeinde" innerhalb der zur Landeskirche gehörenden Gemeinde. In Schweinfurt wären die charismatisch orientierten Menschen in der Auferstehungskirche dazu zu zählen. [...]

Frage: Und diese Bandbreite ist für Sie nicht problematisch?

Dekan: Es ist immer die Frage: Treffen wir uns noch auf dem Boden eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses? Katholische und evangelische Kirche haben ja die Glaubensbekenntnisse vor der Reformation als gemeinsames Glaubensgut. Treffen wir uns auf diesem Boden und der Heiligen Schrift, dann haben wir als Protestanten mit der Vielfalt kein Problem. Dazukommen muss aus meiner Sicht aber, dass wir einander den Glauben nicht absprechen. [...]

Frage: Wie ist dann das Miteinander mit den Freikirchen, die die Landeskirche verlassen haben?

Dekan: Unterschiedlich! Schwierig wird es, wenn eine Freikirche Erwachsene noch einmal tauft, die schon getauft sind. Wir haben da ein ganz anderes Taufverständnis. Da geht es ja nicht nur um die Form, sondern um eine grundlegende, den Glauben betreffende Frage. Ein anderes Problem ist, wenn eine Freikirche sagt, mit einer Pfarrerin machen wir keine gemeinsame Veranstaltung. Wir haben nun mal Frauen im kirchlichen Amt. Problematisch ist es auch mit den Gemeinschaften, die andere nicht als vollwertige Christen ansehen. [...]

Frage: Sind sich die beiden Volkskirchen nicht mitunter näher als die evangelisch-lutherische Kirche zu manchen evangelischen Freikirchen?

Dekan: Durchaus - besonders auf der Ebene der Menschen, die sich zu den beiden großen Kirchen zugehörig fühlen. Da ist man sich in meiner Wahrnehmung in vielen Dingen, die Glauben und Kirche betreffen, sehr ähnlich. Nicht in allem, auch da gibt es eine große Vielfalt. Damit tun wir Protestanten uns im Endeffekt wohl etwas leichter, denn schon seit der Reformation gibt es unterschiedliche Traditionen und Formen. [...]

Frage: Profitieren die "großen" Kirchen von den "kleinen"?

Dekan: Die Ränder fehlen uns. Für die Menschen, die sich am Rand bewegen oder auch über die Grenze gehen, habe ich Verständnis - sowohl für die, die mehr Verbindlichkeit haben wollen, als auch für die, die einen freieren Weg brauchen. Sie erinnern uns ja an etwas, was mit unserem Glauben und unserer Kirche ganz viel zu tun hat. Wir haben verbindliche Formulierungen für unseren Glauben, sind aber auch eine Kirche der Freiheit, die sagt: Es kommt auch auf den Einzelnen ganz besonders an. Und Zwang steht uns da nicht gut an. [...]

(Auszug aus: DIE9. Das Magazin der Schweinfurter Katholiken, Nr. 28, Juni 2011, S. 6f)