Siebenbürgen-Report (2)

Pfarrkonvent des Dekanats Schweinfurt (Forts.)

Blick auf Sibius Wahrzeichen, den Ratsturm am Kleinen Ring (Piaţă Mică), früher der Markplatz der Handwerker

Den ersten Teil verpasst? LINK: https://www.schweinfurt-evangelisch.de/inhalt/siebenbuergen-report-1

2. TAG: Dienstag, 4. Juli 2017:

Erste Gespräche und Stadtbesichtigung oder: Kein Pfarrer ohne Führerschein

Erster Programmpunkt nach der Akklimatisierungsnacht: Gespräch mit der evangelischen Kirchenlei­tung, sprich mit dem „Sachsenbischof“ Reinhart Guib im Festsaal seines Amtssitzes, Sporergasse 4, im Zentrum von Sibiu: Aus erster Hand sollen die PfarrerInnen Informationen über die Situation und Perspektiven der lutherischen Kirche in Siebenbürgen erhalten.

„All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu“: Erst ein­mal beginnt mit gemeinsamem Lied eine Morgenandacht, fortgeführt durch Auslegung der Tages­losung „Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht“ (5. Mose 32,7):

Nur wer die Vergangenheit kenne, könne Gegenwart und Zukunft gestalten, erläutert der Bischof und deutet dazu auf eines der 20 gemalten großformatigen Wandporträts seiner bi­schöflichen Vorgänger: Es stellt Georg Daniel Teutsch dar, dessen Todestag 1893 in diesem Jahr zum regelmäßigen evangelischen Gedenktag erhoben wurde. Bischof Teutsch hatte sich damals gegen die „Magyarisierung“ (Ungarisierung) seiner Kirche, die sonst den reformierten Glauben hätte anneh­men müssen, zur Wehr gesetzt, auch für die Beibehaltung der deutschen Sprache votiert und somit die Autonomie der „Volkskirche der Siebenbürger Sachsen“ gestärkt. Volk und Kirche wurden sei­tens der Bischöfe gemeinsam bis zur Nazi-Herrschaft 1940 vertreten.

Kurz zur Geschichte der Reformation in Siebenbürgen: Träger der Reformation waren Humanisten, allen voran der Universalgelehrte Jo­hannes Honterus aus Kronstadt, der bei Reisen durch Europa Luther in Wittenberg traf und, heimge­kehrt, in Kronstadt 1542 die evangelische Messe einführte. Drei Jahre später beschloss die Synode von Mediasch die Reformation bei den Siebenbürger Sachsen. Auf Honterus geht die „Kirchenord­nung aller Deutschen in Siebenbürgen“ von 1547 zurück. Auf dem Thorenburger Landtag 1568 wurde per Edikt von T(h)ora rechtlich erstmals die (einge­schränkte) Religionsfreiheit in Europa festgelegt. Seitdem gehört die lutherische Kirche A.B. zu den anerkannten Glaubensbekenntnissen Siebenbürgens. 1572 verpflichtete sich die Synode auf das Augsburger Bekenntnis.

Nunmehr ist es die „Evangelische Kirche A.B. (= Augsburger Bekenntnis) in Rumänien“ (EKR), der Guib als 36. Bischof seit der Reformation vorsteht. Er wurde in Mediasch geboren, stu­dierte in Hermannstadt evangelische Theologie, wurde später Pfarrer in seiner Heimatstadt und blieb seinem Land treu, als mit der rumänischen Revolution 1989 Siebenbürger Sachsen massen­weise vor allem nach Deutschland auswanderten.

Prekäre, ernüchternde Zahlen: Bischof Guib kommt auf die jüngere Geschichte und die nicht gerade rosige Gegenwart seiner Kirche zu sprechen: Von den einst 300.000 Gemeindegliedern sind während und nach dem Zweiten Welt­krieg 180.000 vor der Roten Armee nach Österreich und Deutschland geflohen. Zurückgebliebene Rumäniendeutsche, 65.000 im Alter zwischen 16 und 45 Jahren, davon 26.000 Sachsen, wurden 1945 von den Sowjets „ausgehoben“ und in ukrainische Kohlebergwerke, ja bis nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert. Nur wenige durften Jahre später ausgemergelt zurückkehren, währenddessen ihr Besitz vom rumänischen Staat konfisziert worden war. All dies hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.

Vor allem aber hat die Wende 1989/90 und mit ihr einhergehend die Reisefreiheit zu über 100.000 weiteren Abwanderungen geführt. In den Augen mancher bewusst Dagebliebenen erscheinen diese als Verräter. Wer nicht nach Deutsch­land, Österreich oder in die USA emigrierte, zog zumindest in Städte oder Stadtnähe um. „Landflucht“ nennt man dies.

Der Bischof hat es nur noch mit 12.000 Seelen zu tun, von denen zwei Drittel über 65 Jahre alt sind. Trotzdem gibt er sich selbstbewusst: „Wir Christen werden nicht gezählt, sondern gewogen“; es gehe um Qualität statt um Quantität. Er spricht von derzeit 240 evangelischen Gemeinden – die größte mit 1100 Seelen in Hermannstadt, gefolgt von 900 in Kronstadt und 800 in Mediasch. Im Durchschnitt zählten die meisten Gemeinden 20 bis 50 Mitglieder, aber 130 hätten inzwischen weniger als 20 und über 40 Gemeinden überhaupt keine Mitglieder mehr. Dort gelte es nur noch Pfarrhaus, Kirchen­gebäude und Friedhof zu verwalten. Kirchliche Liegenschaften waren während der kommunis­tischen Ära enteignet worden. Nun müssen sie mühsam, teils gerichtlich zwecks Restitution einge­klagt, saniert und dann z.B. vermietet werden. Besonders das Erbe von 160 Kirchenburgen, sprich deren Substanz-Erhaltung oder gar Sanierung, wiegt schwer. Der Bischof recht lustig: „Wir sind stein­reich.“ Positiver Aspekt: Es bedarf keines kirchlichen Neubaus!

Ebenso ernüchternd die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer: insgesamt 32, von denen jede/r 400 Ge­meindeglieder in acht bis zehn Gemeinden – laut Guib „die Basis der Kirche“ - zu betreuen hat. Die schon vor der Wende aktiven und dagebliebenen PfarrerInnen haben inzwischen das Rentenalter er­reicht. Daher sind die jetzt Dienst tuenden recht junge Pfarrerinnen und Pfarrer. In Randgebieten müssen sie pro Woche an die 500 Kilometer zurücklegen, weshalb der Führerschein zur Berufsausübung zwingend erforderlich ist! Gerade in dieser weit gestreuten Diaspora bedürfen die wenigen Dagebliebenen der Seelsorge und diakonischen Fürsorge.

Ein Pfarrer – so Guib – müsse einfach alles sein, zum Beispiel Fahrer von Sammel-Kleinbussen und Botengänger, um Medikamente, Lebensmittel und anderes zu besorgen. Jeder kenne jeden: Regel­mäßig besuchten 50 Prozent der Gemeindeglieder den Gottesdienst, an manchen Sonntagen sogar 100 Prozent.

Vor kurzem wurde der verwaltungstechnische Übergang von der Einzelgemeinde zum Gemeindeverband mit Ar­beitsteiligkeit vollzogen. Inzwischen existieren acht solcher Verbände, in denen ein Drittel aller Ge­meinden vertreten sind. Guib gibt die Hoffnung nicht auf. Er begrüßt, dass inzwischen wieder Siebenbürger Sachsen aus dem Ausland zuziehen. So seien inzwischen tausend neue Glieder registriert worden.

Guib hat auch ein kulturtouristisches Programm angestoßen: „Entdecke die Seele Sieben­bürgens“: Es dient der Förderung der Kirchenburgen – ein Ferienpass für Kirchenburgen, die sog. „Transilvania Card“, ist inklusive! –, ermutigt aber laut Flyer den Besucher zugleich, „eine ‚Reise nach innen‘ zu wagen, sodass die Reise auch eine Erfahrung des Nachdenkens und Entdeckens wird.“ Außerdem organisiert man Konzertreihen, Ausstellungen, Wochen des Dankes und der Ga­ben, Kronenfeste (d.h. Erntebittvolksfeste) Ende Juni und vieles andere mehr. Immerhin zählt Sie­benbürgen zurzeit 700.000 Besucher pro Jahr – und dies mit zunehmender Tendenz.

Und außerdem läuft zurzeit das Reformationsjubiläumsprojekt „12 Apfelbäumchen für ein klares Wort", welches an zwölf siebenbürgischen und europäischen Orten der Reformation ein Zeichen der Hoff­nung setzen will – darunter neben rumänischen und slowenischen Städten auch in Wittenberg und Augsburg.

In seinem Dankeswort lobt Dekan Bruckmann die „mutige Kirche“. Bruckmanns Dekanatsbezirk zählt allein schon über 15.000 Mitglieder in Schweinfurt-Stadt. Insgesamt sind es 42.500, betreut von rund 40 Geistlichen.

 

Zweiter Programmpunkt: In der leeren Uni - „Ein bisschen speziell“

Besuch der theologischen Fakultät: Wie stehtʼs um Forschung und Lehre? Und um den Pfarrer-Nachwuchs? Der Flyer, der für evangelisches Theologiestudium in Rumänien wirbt, beginnt bezeichnenderweise mit der Frage: „Du sprichst Deutsch?“ Erst an dritter Stelle folgt die Frage: „Du willst mit Menschen arbeiten, an der Gestaltung der Zukunft mitwirken? Dann ist das Studium der Evangelischen Theologie eine Option für Dich!“

Weit draußen, ab vom Schuss, in einem Außenbezirk der Stadt, liegt das „Departement für protes­tantische Theologie“. Eine halbe Stunde Fußweg auf Asphaltpflaster in der prall-sonnigen Mittagszeit ist angesagt. Profes­sorin Dr. Renate Klein erwartet die PfarrerInnengruppe bereits sehnsüchtig am Eingang des von einem netten, kleinen, mit Schatten spendenden Bäumen bestückten Park umgebenen Gebäudes.

„Klein“ ist eine evangelische Theologendynastie in Siebenbürgen. So war Christoph Klein, Profes­sor für Systematische Theologie an der deutschsprachigen Evangelisch-theologischen Fakultät in Hermannstadt, als Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien bis 2010 Nachfolger von Albert Klein und wiederum Vorgänger des jetzigen Bischofs Guib. Schwiegertochter Renate Klein ist verheiratet mit Christoph Kleins Sohn Johannes. Dieser ist Pfarrer in Fagarasch und Privatdozent. Dann gäbe es da noch den emeritierten Neutestamentlicher Hans Klein (u.a. Das Lukasevangelium, Göt­tingen 2006), Sohn von Albert Klein. Alles klar?!

Renate Klein bedauert, dass das zuvor zentral im Bischofshaus gelegene theologische Institut 2006 umgesiedelt bzw. ausgelagert wurde – zwar in ein Gebäude, das der Kirche vom Staat zurückerstat­tet, aber das „zu rasch“, sprich oberflächlich renoviert wurde. Die eingetretenen Schäden sind offen­sichtlich. Nun gehört die Theologie zur staatlichen Uni. „Wir sind niemand mehr“, sagt Frau Klein trocken. Sie darf sich hier (nur) Lektorin titulieren und wird seitdem vom Staat bezahlt.

Womit wir beim Salär ange­kommen wären: Ihren Angaben zufolge verdient sie monatlich um die 2500 Lei, umgerechnet etwa 630 Euro. Auch ihr Mann würde dieselbe Summe als Pfarrer erhalten. Der Staat zahle bei Pfarrgehältern nur einen Mindestlohn, der Rest bzw. die Zulage müsse individuell mit der betreffenden Gemeinde ausgehandelt werden. Dafür bräuchten sie aber im Pfarrhaus keine Miete und nur ein Viertel der Nebenkosten zu zahlen.

Außer ihr unterrichtet an dieser „Uni“ nur noch eine hauptamtliche Kraft (der Schweizer Prof. Stefan Tobler, Sys­temat. Theologie), alle anderen Seminare werden von Lehrbeauftragten bestritten; deren Stunden­lohn: 1,50 Euro. Generell seien Schullehrer noch schlechter gestellt, weshalb sie meist nicht nur einen Job hätten oder die gut qualifizierten jungen Pädagogen dem Land so rasch wie möglich den Rücken kehren würden. Überhaupt bekäme man angesichts der kleinen Gehälter nirgends gute Leu­te. Die Hälfte der Bevölkerung lebe unter dem Existenzminimum.

Professorin Klein räumt ein, dass die Fachbibliothek etwas aktueller sein könnte (man hätte gern einen Blick hineingeworfen!), und bedauert, nur Grundwissen vermitteln zu können. Obwohl sie im Fach Altes Testament habilitiert ist, muss sie neben Hebräisch auch Griechisch und Religionsgeschichte unterrichten, weil es einfach dafür kei­ne Dozenten gibt.

Allmählich wundert man sich über die absolute Stille im Haus. Niemand sonst ist zurzeit da. Selbst bei vollem Lehrbetrieb dürfte es hier beschaulich zugehen. In den vier Jahrgängen bis zum Theologischen Examen sind nämlich insgesamt 14 Studierende immatrikuliert. „Faktisch“ seien es elf, von denen aber nur sieben regelmäßig erscheinen würden, präzisiert Dr. Klein. Nicht jeder könne die Studienjahr-Gebühr von 2500 Lei – ein Dozentenmonatsgehalt! - aufbringen. Die Profes­sorin hofft aber auf mindestens zwei Neuzugänge im Herbst, denn die würden dann die beiden Stu­dierenden, die gerade ihre Lizenzprüfung (Examen) ablegen, ersetzen und somit das Überleben der Einrichtung um ein weiteres Jahr sichern. Ein Teufelskreis: Je weniger an dieser deutschsprachigen Uni studieren, desto weniger Pfarrerinnen und Pfarrer wird es im Lande geben.

Mitreisender Pfr. Wolfgang Stumptner (Gochsheim) wagt den Vergleich mit dem darbenden Volk Israel in der Babylonischen Gefangenschaft. Dekan Bruckmann fragt nach der siebenbürgischen Kontextualität von Theologie. Renate Klein: „Wir sind weniger offen als anderswo, weil wir darauf bedacht sind, unsere Identität zu bewahren. Wir wollen wir selbst bleiben, eben ein bisschen speziell: deutsch­sprachig und evangelisch.“ Aus anderem Mund hören die Geistlichen später, dass die Sachsen etwas „kriegerisch orientiert“ seien.

Jedenfalls spürt man den Idealismus der Dozentin, ihre Pioniermentalität, ihr Herzblut für die Sa­che. Sie will etwas bewirken, in Sibiu zumindest einen fingerprint hinterlassen. Offenbar vertraut die Alttestamentlerin der vagen prophetischen Hoffnung: „Vielleicht wird der Gott Zebaoth doch gnädig sein denen, die von Joseph (= Israel) übrigbleiben“ (Amos 5,15).

 

Dritter Programmpunkt: Nachmittäglicher Streifzug durch Hermannstadt

Dekan Klöss-Schuster hat seine (immer noch) Be­kanntheit spielen lassen und als Gästeführerin Beatrice Ungar, Chefredakteurin der „Hermannstäd­ter Zeitung“ - dem deutschen Wochenblatt von Sibiu, gewinnen können. Unterhaltsam launig er­zählt sie Episoden aus der Geschichte der Stadt, die 1191 erstmals urkundlich als eigenständige Propstei Erwähnung fand. Deutschen Siedler ließen sich über dem Fluss Zibin (rum.: Cibin) auf einem Hügel, der heutigen Oberstadt, nieder. Ab 1223 ist der Name „Villa Hermanni“, wenig später „Hermannstorf“ belegt. Aber wer dieser Hermann gewesen sein soll – etwa Erzbischof Hermann II. von Köln –, ist nicht eindeutig zu bestimmen.

Noch dazu gibt Frau Ungar die Legende zum Sprichwort „Das geht doch auf keine Kuhhaut“ zum Besten: Besagter Hermann habe so viel Land versprochen bekommen, wie er mit ei­ner Kuhhaut umspannen könne. Daraufhin schnitt er eine Kuhhaut in so hauchdünne Streifen und markierte damit ein riesiges Stück Boden. Wie dem auch gewesen sei: Stadtrecht im 14. Jh., Über­tritt zur Reformation 1536, bis Ende des 18. Jh. eine rein siebenbürgisch-sächsische Stadt. Erst der Habsburger Kaiser Joseph II. hob das ausschließliche Bürgerrecht für die Sachsen auf. Ab da wurde Sibiu zum Zentrum der Rumänen. Seit der Wende 1989 ist es auch Zentrum der Roma. Die Zahl der Siebenbürger Sachsen beträgt nur noch 1500 – also ein Prozent der Einwohnerschaft. Auch von den einst 39 Wehrtürmen der Stadtbefestigung stehen nur noch wenige. Der Ratsturm, das Bindeglied zwischen Kleinem und Großem Ring, ist das Wahrzeichen von Sibiu.

Fortsetzung folgt: "Alles Kirchenburgen oder was?"