Soziale Not war Thema beim Partnerschaftstag in Oberndorf
Schweinfurt, Sa.-Vormittag, 2. Aug.2014. Es ist die „Glaubensfrage“, die viele Brasilianer momentan wohl am meisten beschäftigt: Wie umgehen mit dem 7:1-Debakel ihrer Nationalelf gegen die deutsche WM-Auswahl im Halbfinale? Pastor Rolf Rieck hat eine salomonische Antwort parat: „In dieser Kombination, Brasilien gegen Deutschland, ist es noch erträglich. Schlimmer wäre es gegen Argentinien gewesen.“
Der Seelsorger der Martin Luther-Gemeinde in Rio de Janeiro ist ebenso Brasilianer wie deutscher Abstammung, in fünfter Generation. Dass es rund um den Zuckerhut andere Probleme gibt als Fußball, das wird beim Partnerschaftstag im Gemeindehaus der Kreuzkirche deutlich, wo Gäste aus Übersee berichten: mit klangvollen Namen wie Francisco Rafael Soares dos Santos, Pastor einer Gemeinde in Rio das Ostras, Irene Flister da Silva oder Lélia Brazil Protasio Dias des Oliveira. Oder eben sehr deutsch klingenden wie Gisela Kampfe Reichert, Elke Renate Schulze Bittar und Roseli Blanck.
Seit 27 Jahren unterstützt das Dekanat Schweinfurt vier evangelisch-lutherische Gemeinden in Rio, insbesondere die Kindertagesstätte „Bom Samaritano“ unweit eines Elendsviertels [...].
Christhild Grafe als Dekanatsmissionspfarrerin sowie Renate Käser, Dekanatsbauftragte für Partnerschaft, Mission und Entwicklungsdienst, haben zur Gesprächsrunde eingeladen, „um sich auszutauschen“. Christine Drini hat als Auslandspfarrerin selbst mehrere Jahre in der 12-Millionen-Metropole gewirkt, lebt heute in München und spricht fließend Portugiesisch. Gemäß der Jahreslosung „Suchet der Stadt Bestes“, ein Vers aus Jeremia, geht es um die unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben in der Gemeinde, der „comunhao“. Schnell wird deutlich: Deutsche Gemeinden leiden vor allem an Altersstruktur und Personalmangel, in Brasilien gehen die Probleme tiefer, dem Klischee von Sonne, Samba, Dauerparty zum Trotz.
Gerade der wirtschaftliche Aufschwung, die rasante Entwicklung vom Agrarstaat zum Land riesiger Städte, hat zu einer Zweiklassen-Gesellschaft geführt. „Wir sind gegen Gewalt, nicht nur gegen die Gewalt auf der Straße, sondern auch gegen die des Staates.“ Diesen Standpunkt habe man, als es vor der WM zu heftigen Sozialprotesten kam, mit einem ökumenischen Manifest deutlich gemacht, so Pastor Rieck. Kritisiert wurden sowohl Übergriffe der Polizei als auch fehlende staatliche Fürsorge. Hier springt die kleine evangelisch-lutherische Kirche ein, zusammen mit dem großen katholischen Bruder. Im Norden des Staats Rio de Janeiro betreut Pastor Francicso ein „Projeto Pela Paz“, ein Projekt für Frieden und gewaltlose Konfliktlösungen, mit Jugendbetreuung und Sozialarbeit an den Schulen.
[...] Gerade mal tausend Familien zählt die lutherische Kirche in Rio in den Gemeinden Martin Luther, Bom Pastor, Bom Samaritano und Esperança (Hoffnung), Stadtteil Niteroi. Der Glaube kam ab 1824 mit den ersten deutschen Siedlern [...].
Der große Konkurrent sind nicht die Katholiken, sondern andere evangelische, neuapostolische Freikirchen: „Die Pfingstler beuten die Menschen aus, der Hoffnung und dem Geld nach“, kritisiert Rolf Rieck. Statt von der Kanzel werde von einer Bühne herunter gepredigt, trotz gewisser Erfolge im Kampf gegen Alkohol- und Drogensucht gehe es um ein Geschäft – nur wer zahlt, wird (vermeintlich) geheilt: „Es ist teuflisch.“ Die ganze Stadt sei im religiösen Fieber, sagen die Besucher, die lutherische Kirche da nur ein Tropfen im Ozean.
Immerhin habe sie bei der FIFA ein WM-Motto vermitteln dürfen, das beim Finale gezeigt worden sei: „Eine Welt ohne Waffen, Drogen, Gewalt, Rassismus.“ Eine Brasilianerin erinnert sich an ein Plakat in der Nachbarschaft, das Schulen, Krankenhäuser, eine Kanalisation und Sicherheit statt der Weltmeisterschaft gefordert hat. Riecks Resümee ist zwiespältig: „Brasilien wurde gesehen. Aber die Probleme sind geblieben.“
(aus: Schweinfurter Tagblatt vom Mo., 4. Aug. 2014, S. 24; Text: Uwe Eichler)