Predigt des Landesbischofs am 04. Mai 2010 in St. Johannis - Schweinfurt

Predigttext: Kolosser 3, 12-17

Ich lese den Bibeltext, der der heutigen Predigt zugrunde liegt. Es ist die Epistel für den Sonntag Kantate, den wir vor zwei Tagen gefeiert haben.

So steht geschrieben im Brief an die Kolosser im dritten Kapitel:

12 Zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld;
13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!
14 Ãœber alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.
15 Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.
16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.
17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.


Liebe Gemeinde,

wie sieht ein perfektes Dekanat aus? Was muss alles vorhanden sein, damit man überzeugt sagen kann: alles ist in bester Ordnung, es könnte in unserem Dekanat nicht besser sein!

Sicherlich hat jeder von Ihnen zumindest eine ungefähre Vorstellung, wie er oder sie diese Frage beantworten würde.

Hier ein Beispiel:  ein perfektes Dekanat müsste vielleicht folgendermaßen aussehen: jede Pfarrstelle müsste ohne Vakanz immer besetzt sein, mit einer Pfarrerin oder einem Pfarrer, der gute Ratschläge gibt, aber niemand kritisiert, der nicht älter als 35 Jahre alt ist, dafür aber 40 Jahre Berufserfahrung mitbringt; ständig unterwegs, um Hausbesuche zu tätigen, aber gleichzeitig auch rund um die Uhr in seinem Büro erreichbar ist.

Ein perfektes Dekanat hätte in jeder Kirchengemeinde einen hauptamtlichen Kirchenmusiker, einen Posaunen,- Kirchen- und Gospelchor, zwei Senioren- und Mutter-Kind-Gruppen, einen Kindergarten, der sich komplett selbst trägt, drei Jugendgruppen und vieles mehr.

Ein perfektes Dekanat hätte eine Dekanin oder einen Dekan, der den ganzen Tag, 24 Stunden und, wenn nötig, darüber hinaus auch noch die ganze Nacht, für die Nöte und Probleme seiner Gemeindeglieder ein offenes Ohr hat, der jeder Kirchengemeinde und jedem seiner Pfarrerinnen und Pfarrer und jedem an das Dekanat angeschlossenen Werk seine ganze Aufmerksamkeit widmet.

In einem perfekten Dekanat würden die wöchentlichen Sonntagsgottesdienst - drei an der Zahl in jeder Gemeinde – bis auf den letzten Platz der Kirche gefüllt sein mit Gläubigen, die völlig ausgeglichen, begeistert, engagiert, freundlich, demütig und in bester Harmonie miteinander Gottesdienst feiern und auch den restlichen Alltag im Gemeindeleben ohne den kleinsten Makel miteinander zusammenleben.

So könnte ein perfektes Dekanat aussehen, zugegeben, etwas überspitzt und übertrieben dargestellt.

Doch wenn wir die ersten Verse des heutigen Bibeltextes lesen, drängt sich mir fast so ein perfektionistisches Bild auf in Bezug auf die Menschen, die als Christen in einem solchen Dekanat leben könnten:

Paulus schreibt:

Zieht nun an Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern.

Ein hoher Anspruch!

Bei meinen Dekanatsbesuchen, die zu den schönsten Veranstaltungen im Terminkalender des Landesbischofs gehören, habe ich manchmal den Eindruck, dass dieser Anspruch schon oft Wirklichkeit geworden ist. Da begegnen mir hoch motivierte und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kirchengemeinden, in den Schulen, den Kindergärten, den Diensten und Werken und auch in den Betrieben. Und jedes Mal bin ich begeistert darüber, welch einen Reichtum an Menschen mit unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten unsere Landeskirche zu bieten hat. Da kann man oft den Eindruck bekommen, dass in unserer Kirche alles in bester Ordnung ist.

Doch ich denke, dass dieser Eindruck kein vollständiges Bild wiedergibt.

Wenn man die augenblicklichen Austrittszahlen oder so manchen Zeitungsartikel in den letzten Wochen ansieht,  so könnte man einen ganz anderen, einen primär negativen Eindruck von unserer Kirche bekommen.

Da wird fast täglich von Missbrauch und Gewalt in kirchlichen Heimen durch kirchliche Mitarbeiter berichtet, es wird geschrieben von Menschen, die der Kirche den Rücken kehren, von finanziellen Schwierigkeiten in den Kirchengemeinden und vieles mehr.

Woran liegt das also? Sind Anspruch und Wirklichkeit doch meilenweit voneinander entfernt?

Der Appell, den Paulus in den Versen 12 und 13 an die Kolosser richtet, scheint ja fast nicht zu erfüllen zu sein: Immer geduldig, demütig, freundlich zu sein, stets seinem Nächsten zu vergeben und ihn ertragen. Wem gelingt das schon?

Es besteht eher die Gefahr, dass dieser enorm hohe Anspruch genau das Gegenteil bewirkt. Das kann doch keiner schaffen, das gelingt doch niemals. Da brauchen wir es also auch gar nicht erst versuchen.

Die Folge davon: Menschen, die sich von diesem Anspruch fast erdrückt, sich nicht richtig wohl fühlen in ihrem kirchlichen Umfeld: Menschen, die nicht die Liebe als das Band der Vollkommenheit, von dem Paulus schreibt, an den Tag legen, wenn es um den gegenseitigen Umgang geht. Da stehen manchmal der Konkurrenzkampf zwischen einzelnen Gemeindegruppen, das Gefecht um die Finanzmittel und um die Anerkennung im Vordergrund, oder das Ringen der Gemeinden untereinander, wer den höchsten Stellenwert und die größte Bedeutung im Dekanat und damit auch den Anspruch auf entsprechende Mittel hat.

Oft ist im christlichen Miteinander eben nicht sehr viel zu spüren von Freundlichkeit, Demut, Geduld und Vergebung.

Der Philosoph und Atheist Friedrich Nietzsche hat einmal kritisch gesagt:
"Die Christen müssten mir erlöster aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte."

Das ist eine deutliche Ansage. Und es ist ein Wort, das betroffen macht.

Ja, es ist leider so, der Anspruch, den die Verse des Kolosserbriefs erheben und die Wirklichkeit im christlichen Miteinander liegen oft weit auseinander.

Sind also die Verse des heutigen Predigttextes dann reine Utopie?

Ich denke nicht. Paulus selbst gibt uns zwei Hinweise wie es gelingen kann.

Er schreibt:
Der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen:

Das ist ein Appell, aber gleichzeitig auch ein Zuspruch. Wir sind berufen zu einem Leib Christi. Der Auftrag kommt nicht aus uns selbst, wir sind von Gott berufen! So müssen und können wir nicht aus uns selbst heraus das vollbringen, was Paulus in den Versen 12 bis 13 schreibt. Das gelingt, wenn der Friede Christi in unserem Herzen wohnt, wenn wir diesem Frieden nicht vor lauter verkrampfter Bemühung um uns und unsere Aufgaben nicht im Wege stehen, sondern ihm Raum und Zeit geben, bei uns einzuziehen.

Ein zweites gibt uns Paulus auf den Weg, das ein Gelingen möglich macht.

Dreimal hintereinander im Bibeltext verwendet Paulus das Wort „danken“ bzw. „dankbar“.

Seid dankbar, singt dankbar und dankt Gott, dem Vater.

Zu danken vergaßen und vergessen die Menschen viel zu häufig. Die Bibel erzählt an mehreren Stellen wie der Dank vergessen wurde, Dank gegenüber Gott, Dank gegenüber Jesus, Dank gegenüber Menschen. Das berühmteste Beispiel ist die Heilung der zehn Aussätzigen, bei der auch nur ein einziger zurückkehrte, um Jesus für die Heilung zu danken. Die anderen sahen es anscheinend als selbstverständlich an und dankten Jesus nicht.

Doch vergessener Dank lässt auch schnell all das vergessen, was Gott uns Gutes tut. Die Folge davon liegt auf der Hand. Unser Blick richtet sich dann schnell wieder auf das Negative, auf die Defizite, auf das, was nicht gelingt.

Aber unser Glaube befreit uns davon, nur defizitär zu denken und zu leben. Er befreit uns dazu, dankbar davon zu singen und zu jubeln, wie Gott uns in unserem Leben geführt hat und weiterhin führen und leiten möchte.

Den Standpunkt des Dankes einzunehmen bedeutet eine veränderte Perspektive zu bekommen. Es wird zwar nicht alles im Leben gelingen, nur weil man dankbar ist, aber die negativen Dinge im Leben bekommen ein anderes Gewicht. Sie werden leichter und erträglicher, weil uns der Dank an Gott die richtige Ausrichtung schenkt. Wir haben eine Hoffnung, die weit über die Probleme, Schwierigkeiten und Defizite dieser Welt hinausgeht.

Von dieser Hoffnung dürfen wir uns getragen wissen. „Damit ihr Hoffnung habt“, so lautet das Motto des zweiten Ökumenischen Kirchentags, der morgen in einer Woche in München beginnt und bei dem wir uns alle hoffentlich wieder sehen werden. Wir wollen, dass diese Hoffnung in die Welt hinausstrahlt. Wir wollen, dass die Menschen erkennen: Die, die sich zu Jesus Christus halten, sind nicht unbedingt perfekt, aber sie leben aus einer Hoffnung und Gewissheit, die das Leben positiv verändert.

Das wäre wunderbar, wenn in den Zeitungen nicht mehr von Missbrauch und Vertrauensverlust zu lesen wäre, sondern eher folgende Worte: „Christen sind klasse! Bei den Christen ist zwar nicht alles perfekt, aber sie leben eine Hoffnung, die bleibt, die verändert und die trägt. Das ist Kirche, das überzeugt.“

Ich wünsche mir, dass die Welt diesen Eindruck von uns bekommt.  Dass Kirche nicht in erster Linie als moralisierend, aber substanzlos oder als negativ wahrgenommen wird, sondern als eine von tiefer Überzeugung geprägte Gemeinschaft von Menschen, die Hoffnung, Dank und Freude haben.

Wir haben allen Grund zu danken und Grund zur Freude, denn Jesus Christus hat diese Freude und Hoffnung in die Welt gebracht. Er hat es vollbracht, „perfectum“ wie es im Lateinischen heißt.  Durch IHN sind wir perfekt.

Der Sonntag Kantate erinnert uns in besonderer Weise daran, dass wir in unseren Evangelischen Liedern einen wunderbaren Schatz haben, der von Dank und Freude übersprudelt ohne dabei das Leben in seiner Gesamtheit aus dem Blick zu verlieren; einen Schatz, der Hoffnung und des Vertrauens.

Das merke ich an mir persönlich. Wenn mich in schwierigen Zeiten Probleme und Zukunftssorgen umtreiben, sei es im Privaten wie im kirchlichen Umfeld, so tanke ich wieder auf und bekomme neue Hoffnung und Zuversicht, wenn ich mich an die wunderbaren Texte in unserem Gesangbuch erinnere. Wenn ich erfahre, dass Dank und Lob wieder herausholt aus so mancher betrüblichen Situation. Da erlebe ich, wie mir die Musik und die geistlichen Lieder über Zweifel hinaus helfen.

Durch die Rückbesinnung auf den, der Urgrund unseres Glaubens ist, durch die Berufung auf Jesus Christus können wir überzeugt sagen: Das Leben, das von IHM kommt, ist vollkommen, ist perfekt. Das gilt für unser ganz privates Umfeld, für unsere Gemeinden, für unsere Dekanate und für unsere ganze Kirche.

Dafür lasst uns Gott danken, ihm singen und ihn loben.

Amen.