Am 9./10. November 2008 jährte sich zum 70. Mal das Gedenken an die Nacht, in der im Deutschen Reich die Synagogen brannten. Wir drucken in Auszügen zwei Presseberichte von Hannes Helferich ab, die diesem Jahrestag des Pogroms in Schweinfurt gewidmet sind:
„Wüten der Nazis eine Schande“ (Schweinfurter Tagblatt, 10.10.08)
[…] Rund 300 Bürger wohnten am gestrigen 9. November einer beeindruckenden Gedenkfeier bei. Schon der von Josef Krug (Bad Brückenau) geschriebene und von Laura Reusch (IG-Metall-Jugend) vorgetragene Text „Fahrpläne, Dienstpläne“ ging unter die Haut. Krug beschrieb darin die Todeszüge in die Konzentrationslager, das „Herausprügeln aus den Waggons“ und das „Aussortieren“ an den Bahnrampen, wo Mädchen die „Puppen entrissen“ wurden.
Beeindruckend auch Rabbiner Jakov Ebert (Würzburg). […] Die Opfer, die auch in Schweinfurt in ihrer Synagoge geweint und gebetet hätten, „die werden wir nicht vergessen“, sagte er. Der 9. November sei Gedenktag, an dem „wir daran denken müssen, dass sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt“, warnte der Rabbiner vor aktuellem Rechtsradikalismus durch „Banditen“, die „den Kopf heben“ und Fremdenhass schürten. […]
Der katholische Dekan Reiner Fries drückte seine Hoffnung aus, dass die Geschehnisse die Bereitschaft erhöht haben, „etwas gegen fehlgeleitete Menschen zu tun“. Sein evangelischer Kollege Oliver Bruckmann bedauerte, dass unsere Vorfahren das „wahnsinnige Rasen der Nationalsozialisten“ nicht verhindert und millionenfachen Tod unschuldiger, besonders der jüdischen Menschen, nicht aufgehalten hätten. Auch die Kirchen hätten sich schuldig gemacht, geschwiegen und seien nicht unerheblich an der Hetze gegen das Judentum beteiligt gewesen. Sie hätten die Kirchenbücher verweigern und den Irrsinn „arischer Rassennachweise“ damit zumindest sehr erschweren können, sagte er.
Bruckmann erinnerte an den Berliner Rabbiner Leo Baeck, der den Holocaust als einziger seiner Familie überlebte und sich trotzdem nach dem Krieg um Versöhnung und Dialog zwischen Juden und Christen bemühte. „Baeck hat auch mich beeindruckt, sein Denken war der Grund, dass ich zurückgekommen bin“, sagte Margarita Calvary am Rand der Veranstaltung. Sie wurde vor 86 Jahren als Gretl Silberstein in Schweinfurt geboren und wohnte der Gedenkfeier tief gerührt bei. Sie war vor den Nazis geflohen und 2004 nach Jahrzehnten im Ausland nach Schweinfurt zurückgekehrt. […]
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      Gedenkredner: Rabbiner Ebert |  und die beiden Dekane Fries und Bruckmann |
„Zu wenige haben ihre Stimme erhoben“ (Schweinfurter Tagblatt, 11.11.08)
[…] „Reichskristallnacht“ haben die Nazis ihre Gräueltaten „verharmlosend und verniedlichend“ genannt, „so als sei nur etwas Glas zu Bruch gegangen“. Zitiert ist Pfarrer Siegfried Bergler, der anlässlich des 70. Jahrestages am Sonntagabend einen gut besuchten Gedenk-Gottesdienst bewusst provokant unter den Titel „Kristallnacht“ stellte. […]
An den Anfang stellte Bergler eine im Sonntagsblatt des Jahres 1933 veröffentlichte fiktive Szene, als ein Pfarrer die „Nichtarier zum sofortigen Verlassen der Kirche“ aufforderte. Sofort danach stieg Christus vom Kreuz, verließ die Kirche. Die Szene sei, so Bergler, als Appell an die Christen gedacht gewesen, sich an ihre Verbundenheit mit den Juden zu erinnern. „Denn Jesus, an den wir glauben, war zeitlebens Jude, Jesus war kein Christ, aber offenbar war es da schon zu spät“, sagte Bergler.
Kirchliches Gedenken an den 9. und 10. November 1938 komme an Martin Luther nicht vorbei, der, geboren am 10. November 1483, etliche schwer antijüdische Schriften verfasste. Darunter die berühmteste aus dem Jahr 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“, in der der Reformator die Landesherren aufruft, ihre (der Juden) Synagogen oder Schulen anzustecken. „Fast könnte man meinen, Hitler habe nur das ausführen müssen, was Luther 400 Jahre zuvor gefordert hatte“, sagte Bergler. […]
Bergler blieb kritisch. Das Gedenken sieben Jahrzehnte danach sei ihm zu viel, fast zu einem „inflationären Wortgeklingel geworden“. Vergangenheitsbewältigung dürfe nicht „bloß mit Reden“ geschehen, man müsse vielmehr auf die Opfer und Liedtragenden von damals hören, solange sie noch lebten. „Nur echte, ungeschminkte Erinnerung kann zur Buße, zur Umkehr heute führen“, sagte Bergler. Wichtigste Konsequenz aus „unserer Vergangenheit“ sei mehr Mut, Zivilcourage, Rückgrat, die Schärfung der Augen für all jene, die heute von einem „Schicksal bedroht sind, wie es den Juden damals widerfuhr“.