Schweinfurt verneigt sich - "War Gott ungerecht?"
Schweinfurt, 9.11.2013. Mit der wohl nachdrücklichsten Feier seit ihrer Durchführung hat Schweinfurt am 75. Jahrestag der November-Pogrome am ehemaligen Standort der Synagoge aller Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Mit ein Grund dafür waren die Worte, die SPD-Vorsitzende Kathi Petersen, Klaus Hofmann von der Initiative gegen das Vergessen und Sebastian Remelé fanden. Der Oberbürgermeister beendete seine Rede mit dem Satz: „Schweinfurt verneigt sich vor den jüdischen Mitbürgern“. In St. Johannis folgte am Samstagabend ein nicht minder beeindruckender Gedenkgottesdienst unter Leitung von Pfarrer Siegfried Bergler.
Margarita Calvary, die die Schrecken in Schweinfurt als Gretl Silberstein miterlebte, wohnte der Feier in der Siebenbrückleinsgasse bei. Die 91-Jährige ist als einzige der einst über 300 Schweinfurter jüdischen Glaubens in die Heimatstadt zurückgekehrt. Ihre Anwesenheit trug neben der Liedauswahl des Evangelischen Posaunenchors unter Wolfhart Berger zur besonderen Atmosphäre der Gedenkfeier bei. Abschließender Höhepunkt war die Enthüllung von vier Stelen.
Die Text- und Bildertafeln mit den Überschriften „Zeit“, „Erinnerung“, „Schmerz“ und „Leid“ geben Auskunft über die Geschichte der Juden in Schweinfurt, die Synagoge, den Pogrom vor 75 Jahren und die Deportationen. [...] Der vorher stiefmütterlich behandelte Gedenkort sei nun „aufgewertet“, merkte denn auch Remelé vor rund 120 Bürgern an, nie waren es mehr. Darunter Alt-OB Kurt Petzold, Europaabgeordnete Kerstin Westphal, Stadt-, Kreisräte, Gewerkschafter, Kirchenvertreter und viele Mitglieder der SPD, der der OB ausdrücklich für die alljährliche Organisation der Gedenkfeier dankte. [...]
Den Gedenkort aufzuwerten, hatte die Initiative gegen das Vergessen angeregt, für die Hofmann mit Zeitzeugenaussagen an die Gräueltaten erinnerte – in Schweinfurt vor allem am 10. November 1938. Darunter die Begegnung eines 13-Jährigen mit einem SA-Mann. Die Niederschrift hatte die ebenfalls anwesende Elisabeth Böhrer bei einer ihrer vielen Recherchen über das jüdische Leben in Schweinfurt erst kürzlich entdeckt. Der Bub hob an der Synagoge ein Buch auf, der Nazi schrie ihn an, was eine Frau veranlasste, dem SA-Mann zu erklären, dass es sich um eine heilige Schrift handele. „Davon verstehen Sie nichts, ich übrigens auch nicht, ich tu halt nur meine Pflicht.“
Eine für viele dieser Mitläufer typische Antwort, so Hofmann. Dass man sich in Schweinfurt erinnere, helfe – wie auch andere Feiern an Gedenkorten – „diese Verbrechen am Menschsein in das Denken zu verankern und vor allem nachwachsenden Generationen“ die Lehren daraus weiterzureichen.
In St. Johannis schilderte Ilse Vogel aus Weipoltshausen – sie beschäftigt sich mit der Geschichte der Juden in Franken – am Abend das bewegende Schicksal der Schweinfurter Familie Schelzer. Die von Max Eisenheimer gegründete Eisenwarenhandlung in der Spitalstraße führte nach seinem Tod Tochter Sabine mit Ehemann Alfred Schelzer fort. Die Kinder Hertha (geboren 1914), Herbert (1915) und Ernst Martin (1918) besuchten das Gymnasium. Hertha legte das Abitur 1933 mit ausgezeichnetem Ergebnis ab, erfuhr aber, dass sie als Jüdin nicht studieren dürfe. Verzweifelt nahm sie sich wenig später das Leben.
Den Brüdern gelang 1934 und 1935 die Ausreise nach Palästina, die Eltern erhofften sich, in der Anonymität Berlins zu überleben. 1937 siedelten sie über. Wegen der Angst vor Verhaftung und Deportation nahm sich die Mutter 1938 das Leben. Vater Alfred gelang die Flucht nach Israel. Seinen Sohn Herbert sah er nicht mehr. Herbert hatte sich im Januar 1945 umgebracht.
Wie er bemühte sich auch Vater Alfred, in Israel zurechtzukommen. Und scheiterte. 1949 setzte auch der Vater seinem Leben ein Ende. Die Großmutter wurde in Theresienstadt ermordet. Nur Ernst überlebte damals. Er starb 1983. Vogel: „Ein „gnadenloses Regime hat eine Familie zerstört.“ [...]
Bergler wählte Erklärungsversuche von Juden aus. Der amerikanische Rabbiner Rubenstein etwa leugnete die Existenz Gottes. Dieser hatte zuvor Probst Heinrich Grüber – er rettete Juden und saß im KZ Dachau ein – gefragt, ob die Judenvernichtung durch Hitler Gottes Wille gewesen sei. Grüber soll damals mit dem Bibelwort Psalm 44 geantwortet haben: „Um deinetwillen (also Gott), werden wir (Juden) täglich getötet und sind geachtet wie Schlachtschafe“.
Während Rubenstein seinen Glaube verloren hatte, sei beim Rabbiner und Philosoph Fackenheim genau das Gegenteil geschehen, so Bergler. Fackenheim rief trotz aller Geschehnisse dazu auf, „nicht am Gott Israels zu verzweifeln, denn sonst hätte Hitler gewonnen“.
Bergler schilderte diese Szene aus Auschwitz: Zehn Rabbiner wollten Gott zur Rechenschaft ziehen, in dem sie ihn in einer Gerichtsverhandlung anklagten. Sie sprachen Gott einstimmig schuldig. Darauf habe schier endloses Schweigen geherrscht, bis der Vorsitzende Rabbiner sagte: „Nun lasst uns das Abendgebet verrichten und zu Gott beten“.
Berglers Fazit: „Wir dürfen Gott darum bitten, uns hier und da ein klein wenig Einblick ins sein unbegreifliches Handeln zu geben“. Er glaube aber an einen Gott, der möchte, dass wir, auch 75 Jahre nach der Pogromnacht, durch unser Erinnern daran den neuen Generationen ein bleibendes Gedächtnis geben: „Damit sich Derartiges nie, nie wiederholt.“
(aus: Schweinfurter Tagblatt vom 11.11.2013, S. 25; Text: Hannes Helferich; Fotos: S. Bergler)
- Die Predigt im Wortlaut ist als Word-Datei beigefügt, aber offenbar leider nicht auf allen PCs oder Handys aufrufbar...
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Predigt vom 9.11.2013 | 43 KB |