Autorenlesung in der St. Johannis-Vesperkirche
Schweinfurt, 4. Febr. 2016. „Ich liege im Ersatzreifen eines Lastwagens unter der Ladefläche, eingerollt wie ein Embryo, zwei Tage schon. Mehr als 48 Stunden habe ich mich nicht bewegt, habe nichts getrunken, nichts gegessen. Immer wieder wurde ein Kieselstein gegen meine Beine geschleudert, meine Arme, meine Brust. Beim ersten Mal dachte ich, mich hätte eine Kugel getroffen. Immer wieder nahmen mir die Abgase den Atem, sekundenlang fürchtete ich, ich würde ersticken. Auch jetzt steigt ätzender Geruch von verbranntem Diesel in meine Nase, legt sich auf die Zunge, brennt in meiner Kehle.“
Mit diesen Sätzen beginnt Hassan Ali Djan seine Lesung aus seinem Buch „Afghanistan.München.Ich. Meine Flucht in ein besseres Leben“ (Herder Verlag 2015, 224 Seiten). Es hört sich zwar spannend an, aber seine Erlebnisse, besser gesagt Widerfahrnisse, würde wohl niemand machen wollen.
Hassan Ali Djan steht als authentischer Zeuge an diesem Abend in der Vesperkirche Rede und Antwort. Er wurde 1989 in Almitu, einem Bergdorf in Afghanistan, geboren, „eine abgeschlossene Welt“, wie er sagt. Mit 16 Jahren floh er aus seiner Heimat über den Iran, die Türkei und Griechenland nach München, wo er auch heute noch lebt. Seine Flucht dauerte vier Jahre – von 2001 bis 2005. Die LKW-Szene betrifft die Strecke vom griechischen Hafen Patras bis ins Industriegebiet von München, wohin er eigentlich gar nicht wollte. Als er hier ankam, war noch er noch minderjährig und Analphabet, ohne jedwede Schulbildung, natürlich auch ohne Deutschkenntnisse und ohne Perspektiven.
Den Tag der Ankunft bezeichnet er im Nachhinein als seinen eigentlichen Geburtstag. Heute hat er die Mittlere Reife, eine abgeschlossene Gebäudeelektriker-Lehre, Beruf, Frau und eigene Wohnung, vor allem die deutsche Staatsbürgerschaft. Er spricht perfekt deutsch, sogar in einem sehr gewählten Stil, auch wenn man genau hinhören muss, während er aus seinem Buch vorliest.
Diakoniewerk-Vorstand und Gesprächsmoderator dieses Abends Jochen Keßler-Rosa hat es gelesen und nicht mehr zur Seite legen können, wie er bekundet. Es handelt von der Flucht und den ersten Gehversuchen in der neuen Heimat Deutschland.
Tief prägend waren Ali Djans erste Stationen in München: wie ein Mann vom Sozialdienst ihn in die Kleiderkammer führte und er sich etwas aussuchen durfte; wie er zum ersten Mal eine deutsche Wohnung betrat und über die vielen Bücher dort staunte; dann, in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht – im Wartestand, das nervenaufreibende, Geduld erfordernde Asylverfahren, wo sich monate-, ja jahrelang kaum etwas bewegte – zwischen Hoffnung und Verzweiflung, und wie er endlich den ersehnten Deutschunterricht erhielt.
Immer wieder blendet Ali Djan in seinen Erinnerungen zurück ins Elternhaus, etwa zu seinem kranken, sterbenden Vater. Bereits mit elf Jahren musste er die Verantwortung für die Familie übernehmen, sprich Geld verdienen, was ihn schnell zum Erwachsenen machte. Er war Hirte und Diener bei einem Bauern. Mithilfe von Schleppern kam er in den Iran und wurde im Alter von 13 Aufseher einer Baustelle in Teheran. Noch heute sorgt er für seine Mutter und die sechs jüngeren Geschwister, denen er Schule und Studium an der Universität Kabul ermöglichte. Nach dreizehneinhalb Jahren war er wieder einmal zu Hause, musste aber dort wegen seiner Westorientierung ständig auf der Hut vor den Taliban sein.
Das trotz des ruppigen Wetters über hundert Köpfe zählende, interessiert lauschende Publikum fragte ihn nach seinen Kontakten zu anderen afghanischen Flüchtlingen. Ja, er halte enge Verbindung zu ihnen und empfehle ihnen immer wieder dringend, sich über die deutsche Kultur, die Bräuche und gesellschaftlichen Werte zu informieren, vorrangig aber Deutsch zu lernen. Er selber könne aber nur eingeschränkt als Dolmetscher fungieren, da er der afghanischen Schriftsprache nicht mächtig sei.
Natürlich fragte man ihn auch nach dem Stellenwert der Religion: Er sei zwar Moslem, begegne aber jeder anderen Religion und Glaubensgemeinschaft sehr offen. Seinen Glauben an die Lehren des Koran übe er für sich selbst aus. Das deutsche Grundgesetz aber stehe für ihn an erster Stelle im Blick auf das menschliche Zusammenleben.
Und wie malt sich Hassan Ali Djan die Zukunft aus? Seine Kinder sollen ein besseres Leben haben als er, sagt er. Er selbst könnte sich vorstellen, offizieller Repräsentant Deutschlands bei der afghanischen Regierung zu sein. Aber eine bleibende Rückkehr nach Afghanistan schließt er aus: „Heimat ist, wo man Freunde, Arbeit hat und glücklich ist. Ich denke und handle auf Deutsch!“
Ausführliche Leseprobe im Internet: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/das-drama-der-flucht-in-w...