"Wenn ihr hier ankommt ..."

Ausstellung über die Transporte jüdischer Kinder nach England in St. Johannis

Vernissage am 18. Mai: Experten Elisabeth Böhrer und Christoph Gann führten durch die Ausstellung

Vom 18. Mai – 1. Juni 2014 in der St. Johanniskirche Schweinfurt

Das Schicksal einer jüdischen Familie zwischen Kindertransport und gescheiterter Emigration

PRESSESCHAU: „Wenn ihr hier ankommt. . .“ –

Schweinfurt, 18. Mai 2014. Der Titel der Ausstellung sagt bereits viel: „Wenn ihr hier ankommt. . .“ Es sind Worte voller Sehnsucht aus dem Brief eines Mädchens an seine Eltern. Das Mädchen, sie heißt Eva, wartet in einem fremden Land darauf, dass seine Eltern endlich nachkommen.

Etwa 10 000 Kinder aus jüdischen Familien konnten von Ende 1938 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs mit den sogenannten Kindertransporten vor der NS-Diktatur nach England fliehen. Unter dem Eindruck der Novemberpogrome 1938 hatte das britische Parlament entschieden, unbegleiteten Kindern die Einreise zu gestatten, nicht aber ihren Eltern.

Christoph Gann, Richter am Landgericht Meiningen, hat anhand von Briefen und Dokumenten, die den Krieg überdauert haben, das Schicksal Eva Mosbachers und ihrer Familie nachgezeichnet und zu einer Ausstellung verarbeitet, die nun bis 1. Juni in St. Johannis zu sehen ist. „Einerseits eine Geschichte der Bewahrung und der Rettung von Leben. Andererseits eine ganz traurige Geschichte der Trennung und der Zerstörung von Familien“, beschreibt Dekan Oliver Bruckmann seine Eindrücke.

Es ist eine äußerlich unspektakuläre Ausstellung. Bilder, Briefe, amtliche Dokumente – man muss sich erst einlesen und einlassen auf die vielen kleinen Mosaiksteine, aus denen sich dann das Bild eines Lebens zusammensetzt.

Die zwölfjährige Eva Mosbacher, Tochter des Kaufmannsehepaars Hedwig und Otto Mosbacher in Nürnberg, verlässt ihre Heimat mit einem Transport am 8. Mai 1939. Zu dieser Zeit sind die Repressalien gegen Juden allgegenwärtig, etliche Verlautbarungen zeigen die ganze Gemeinheit der NS-Bürokratie. Evas Eltern bemühen sich seit 1937 – spät genug – um die Emigration. Es fällt ihnen nicht leicht, die Tochter wegzuschicken, aber wenigstens gibt es in Cambridge, wo Eva leben wird, Verwandte. Es sind allerdings zwei – christliche – Pflegemütter, die das Mädchen dann bei sich aufnehmen.

Mit im Zug sind etwa 40 weitere Kinder jüdischer Familien aus Bayern, unter ihnen die 15-jährige Eva Susanne Marx aus Schweinfurt, Tochter des Weingroßhändlers Max Marx und seiner Frau Herta. Elisabeth Böhrer, die wohl beste Kennerin jüdischen Lebens in Unterfranken, hat die Geschichten von Eva Susanne (die 2008 in den USA starb), ihrer Eltern, denen später ebenfalls die Flucht gelang, und der Schwestern Rosie und Senta Berlinger zur Ausstellung beigesteuert.

Die Briefe Evas an ihre Eltern, in denen sie von all den neuen Eindrücken und manchmal auch Ärgernissen berichtet, zeichnen das Bild eines lebhaften, offenen Teenagers. Aus langen Schreiben voller Hoffnung werden – kriegsbedingt – auf 25 Wörter beschränkte Notizen, ins nunmehrige Feindesland geschickt über das Rote Kreuz. Herzzerreißend der letzte bekannte Nachrichtenwechsel: Eva erwähnt Ferien und Kinobesuche, die Eltern antworten am 3. Mai 1942: „Wir geben uns Mühe, uns gesund und tapfer zu erhalten.“

Die Emigration der Eltern scheitert schließlich an einem fehlenden Visum der USA. Sie werden deportiert und ermordet. Eva bleibt in England und wird Krankenschwester. Doch auch sie wird nicht glücklich: Von Depressionen gepeinigt, nimmt sie sich 1963, nur 37 Jahre alt, in London das Leben.

Die Ausstellung ist bis 1. Juni täglich von 9 bis 17 Uhr in St. Johannis zu sehen.

(aus: Schweinfurter Tagblatt vom 19. Mai 2014; Text: Matthias Wiedemann)

 

SKULPTUREN zum Gedenken an die KINDERTRANSPORTE 1938-1939:

Mit den sog. „Kindertransporten“ wurden in den neun Monaten von der Reichspogromnacht im November 1938 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 10.000 vorwiegend jüdische Kinder im Alter von vier Monaten bis sechzehn Jahren vor dem drohenden Tod im Konzentrationslager gerettet.

Nach den Ereignissen der Pogromnacht am 9./10. Nov. 1938 gestattete das Britische Parlament allein reisenden jüdischen Kindern aus Deutschland, dem annektierten Österreich, der Tschechoslowakei und der Freien Stadt Danzig die Einreise.

Am 30. Nov. 1938 verließen 196 Kinder in Sonderabteilen mit dem ersten Kindertransport den Bahnhof Berlin Friedrichstraße und erreichten England am 2. Dezember 1938.

10.000 verließen in den folgenden neun Monaten von unterschiedlichen Bahnhöfen ihre Familien, - organisiert von den jüdischen Gemeinden und den Quäkern.  

Die Transporte wurden bis zur deutschen Grenze bei Aachen von der Gestapo bewacht. Niederländische Helfer versorgten die Flüchtlingskinder bis zur Weiterreise.

Mit dem Schiff von Hoek van Holland (Rotterdam) kommend, fanden sie in Harwich, im Sommerlager Dovercourt, später in britischen Pflegefamilien und Heimen Aufnahme. Pflegeeltern und Unterkünfte koordinieretn Flüchtlingskomitees, unterstützt durch Spendenaktionen der Bevölkerung.

Häufigster Treffpunkt mit den Pflegeeltern war die Station Liverpool Street in London.

Die Integration der Kinder geschah fürsorglich. Einige wurden aber auch als Dienstpersonal benutzt und vernachlässigt.

80 Prozent der Kinder, deren Angehörige mit anderen Zügen in den Tod geschickt wurden, bleibt immer das Schuldgefühlt, überlebt zu haben.

 

LONDON: Liverpool Street Station:

Die Skulptur “Für das Kind” (2003) der venezolanisch-britischen Künstlerin Kent Flor befindet sich im Bahnhofsgebäude der Liverpool Street Station, wo die meisten Kindertransporte endeten und die Kinder ihre Pflegeeltern trafen.  (s.u. Foto NR. 1)

Auf dem Bahnhofsvorplatz der Liverpool Street Station steht eine Bronzeskulptur (2006) von Frank Meisler und Arie Oviada. (s.u. Foto NR. 2)

Fünf Kinder schauen sich interessiert um. Sie kommen sich nicht als Opfer und verloren vor. Erhobenen Hauptes blicken sie hoffnungsvoll in die Zukunft.

Jedes Kind trägt ein Schildchen mit einer Nummer. Und hinter der Gruppe sind Gleise zu sehen. Beides deutet an, was mit ihnen geschehen wäre, hätten sie England nicht erreicht. Die Züge hätten sie wohl nach Auschwitz transportiert, wo ihnen Nummern auf die Arme tätowiert worden wären …

 

BERLIN: Bahnhof Friedrichstraße:

Die Bronzeskulptur (2008) von Frank Meisler zeigt eine Gruppe von Jungen und Mädchen mit Zöpfen, Schulranzen, Schiebermütze und aufgenähtem Davidstern. (s.u. Foto NR. 3)

Fünf Figuren in grauer Bronze blicken zur einen Seite und sollen für die 1,5 Millionen Kinder stehen, die in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden.

Am Schienenstrang ist zu lesen: „Züge in das Leben - Züge in den Tod“. Der größere Teil der Kinder geht in die Vernichtungslager (s.u. Foto NR. 4)
Zwei Kinderfiguren aus hellerer Bronze gehen in die andere Richtung. Sie symbolisieren die 10.000 geretteten Mädchen und Jungen. (s.u. Foto NR. 5)

Der Architekt und Bildhauer Frank Meisler, geboren 1929 in Danzig, ist selber im August 1939 am Bahnhof Friedrichstraße in einen der Züge in die Freiheit gestiegen. Seine Jugend verbrachte er in England, heute lebt er in Tel Aviv/Israel.

(Text und Fotos: Siegfried Bergler)

 

Die Wanderausstellung umfasst 32 Tafeln und wurde gefördert im Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz Fördern – Kompetenz stärken“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie ist besonders Schulen zu empfehlen.

Zwei Tafeln sind eigens für die Schweinfurt hergestellt worden. Sie zeichnen die Schicksale der beiden Schweinfurter Mädchen Eva Susanne Marx und Senta Berlinger nach, die ebenfalls nach England kamen:

1.  EVA SUSANNE MARX (s. unten Foto NR. 6)

- geb. am 30 Januar 1924

- Tochter des Weingroßhändlers Max Marx

   und seiner Frau Herta, geb. Grünbaum,

   Rückertstraße 19, Schweinfurt 

- besuchte bis zum 22. Dezember 1937 das heutige Olympia-Morata-Gymnasium

- kam als 15-Jährige im Mai 1939 nach England und 1945 weiter nach New York

- verheiratet mit Kenneth Wolf in Closter, New Jersey:

   nunmehr Susan Wolf ; das Paar hatte 1 Tochter und 2 Söhne

- fehl geschlagener Versuch ihres Bruders Helmut (Harold), der ebenfalls für einen Kindertransport vorgesehen war;

   er emigrierte mit den Eltern im Mai 1941 von Berlin über Portugal in die USA

- Susanne Marx besuchte 1989 wieder ihre Heimatstadt: s. dazu den PRESSEBERICHT (unten Foto NR. 7)

- verstorben im Januar 2008 in New Jersey

(Recherche: Elisabeth Böhrer)

 

2. Senta Berlinger

s.u. als pdf-Datei: Artikel in der "Mainleite", April 2012, verfasst von Elisabeth Böhrer